Besuch bei Luthers

Ein Schaufenster in der Wittenberger Altstadt.

Viele Wege führen in diesem Jahr nach Wittenberg und an einem verregneten Julitag waren auch wir dort. Die Kleinstadt an der Elbe kam einst groß raus durch den hier residierenden Kurfürsten Friedrich den Weisen. Der fromme sächsische Herrscher, der über eine riesige Reliquiensammlung verfügte (mehr als 19.000 Objekte mit einem Gegenwert von rund 2 Millionen Jahren Ablass, wie auf Wikipedia zu erfahren ist), war zugleich durchaus reformfreudig und aus machtpolitischen Gründen kaiser- und papstkritisch. So holte er sich einige innovative Köpfe an den Hof. Neben der berühmten Malerfamilie Cranach zählte dazu der aufmüpfige Mönch Martin Luther, von dem überliefert wird, er habe seine 95 Thesen gegen den Ablass an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt (was so historisch nicht belegbar ist). Jedenfalls gibt es heutzutage an der Schlosskirche eine Tür, in die die Thesen eingeprägt sind. Als Touristin läuft man schnell vorbei, denn dieses Tor ist nicht der Eingang, den findet man nach ein bisschen Suchen auf dem Innenhof.

Vermutlich geht es nicht wenigen auswärtigen Lutherreisenden ähnlich. Sie spazieren durch die idyllische Altstadt von Wittenberg – die tatsächlich, so sagt es eine städtische Tourismusverantwortliche, seit der Wende autofrei ist – und müssen erst einmal sortieren, was hier alles Luther ist und wie man hinkommt. Was uns her lockte, war die Ankündigung einer Kunst- und einer Weltausstellung. Das klingt großartig und wenn es nicht so entsetzlich geregnet hätte, wären wir sicherlich ausgiebig durch den wunderbaren Grüngürtel flaniert, um durch die sieben „Torräume“ zu gehen und bei den verstreuten Pavillons, Zelten und Installationen von Kirchen und kirchlichen Organisationen vorbeizuschauen. Vielleicht wären wir auch auf den 27 Meter hohen Bibel-Turm geklettert, der ansonsten für vom Bahnhof Ankommende wie ein übergroßes Werbeplakat der neuen Lutherbibel wirkt. So aber haben wir nur die Schweizer im Grüngürtel besucht, die ein amüsantes Alphabet der Schweizer Reformation ausgehängt und den hinteren Teil ihres Messezeltes sehr schön zum Grün hin geöffnet haben. Zudem gerieten wir auf der Regenflucht in einen einsamen Pavillon, in dem verschiedene Videos liefen, die, so mutmaßten wir, im nördlichen Skandinavien spielten und in einem Regenwald der südlichen Hemisphäre. Außerdem haben wir am Vorabend (ein Dienstag, Achtung, da ist die Weltausstellung zu) die Lichtkirche der EKHN gesucht und gefunden, die eindrücklich in verschiedenen Farben leuchtet (bitte von der Altstadt kommend nicht direkt dem Lichte nach gehen, man gerät sonst in Versuchung, über das beschrankte Polizeigelände zu laufen).

Am Morgen, nach ausgiebigem Frühstück im Hotel Luther, besuchten wir aber zunächst das Cranach-Haus am Marktplatz. Mit unseren Weltausstellungstickets spazierten wir einfach rein (es war kein Pförtner da) und erfuhren erst später, dass wir extra hätten bezahlen müssen. Anderen ahnungslosen Touristen ging es ähnlich, hörten wir in Gesprächen, sie wollten auf den Spuren Luthers wandeln, aber all diese Orte – wie das Lutherhaus und das Melanchthonhaus – sind nicht Teil des kirchlichen Ausstellungsprojekt zum Reformationsjubiläum. Wir sind trotzdem hinein auch ins Lutherhaus und haben bei der Gelegenheit die benachbarte Nationale Sonderausstellung „Luther! 95 Schätze – 95 Menschen“ besucht. Von der hatten wir bislang kaum etwas gelesen und uns unter dem Titel auch wenig vorstellen können. Umso beeindruckter waren wir, was hier zusammengetragen wurde an Originaldokumenten und Kunstwerken rund um Luther und die Glaubenswelt, der er entstammt. Die 95 Köpfe, von Karl May bis Friedrich Engels, die sich allesamt positiv aufnehmend wie abgrenzend auf Luther beziehen, sind auch etwas Betrachtungs- und Lesezeit wert – leider hatten wir die gar nicht eingeplant.

Stattdessen haben wir uns ausgiebig im Alten Gefängnis die Kunstausstellung „Luther und die Avantgarde“ angesehen. 70 international namhafte Künstler haben sich dort Gedanken gemacht, was Luther ihnen heute noch bedeutet. Nicht alle, das wird beim Gang entlang der Gefängniszellen spürbar, haben viel mit dem Thema am Hut. Sie landen dann schnell bei sich selbst, wie etwa Ai Weiwei, der einen Betonblock in die Zelle stellt, der, aufgeschnitten, die Körperformen eines Eingeschlossenen sichtbar macht. Stephan Balkenhol hat nur einen nackten Mann auf einen Sockel gestellt, aus Holz grob gehauen, aber doch mit feinem Sinn für Proportionen und körperliche Details. Davor bleibt man stehen und schaut ihn und sich an. Thomas Huber beschäftigt sich wie andere Künstler mit der Frage nach dem Bild, seiner Angemessenheit und Rechtfertigung. Das verbindet Kunst und religiösen Glauben und wird von Huber auf intelligente wie andachtsvolle Weise gelöst: In seiner Zelle werden abgehängte Bilder zu Leerstellen, die ebenso leuchten wie das Licht, das durch das vergitterte Fenster auf den Boden fällt.

Verharrt haben wir auch bei dem Roboter des Künstlerkollektivs robotlab, der die Zeit der Ausstellung nutzt, um die gesamte Bibel mit einem übergroßen Füllfederhalter Zeile für Zeile in perfekter Schrift aufzuschreiben. Das tut er in einer meditativen Ruhe, die mit Sicherheit auch die im Mittelalter schreibenden Mönche benötigten – die aber heute wohl nur noch Maschinen aufbringen. Wir jedenfalls waren in Hetze und wollten vor der Zugabfahrt noch das riesige Luther-Panorama von Yadegar Asisi sehen, das tatsächlich einigen Schauwert hat.

Fazit: Ein Tag reicht kaum für das Ausstellungsprogramm, das Kirche und Museen zum Reformationsjubiläum aufgefahren haben. Wir hätten uns gewünscht, die verschiedenen Akteure hätten sich etwas mehr abgesprochen und für die lutherinteressierten Gäste ein übersichtliches, inhaltlich attraktives Paket mit geeignetem Ticket für alle Orte geschnürt. Denn Wittenberg ist durchaus eine zweitägige Reise wert. Die Stadtkirche St. Marien mit dem Cranach-Altar sowie die verschiedenen Antiquariate und Trödelläden auf der langen Schloss- und Collegienstraße haben wir zum Beispiel gar nicht mehr geschafft. Der Vietnamese am Markplatz ist mit seinem reichhaltigen Büffet für eine Mittagspause sehr zu empfehlen.